Wort zum Sonntag - 12.01.2025 - Carolin Esgen, Prädikantin ev
Wort zum Sonntag
12.01.2025
Feinfühlig
Was denken Sie: welcher Sinn ist beim Ungeborenen zuerst da? Hören? Sehen? Riechen? Nein - es ist der Tastsinn. Schon im zweiten Schwangerschaftsmonat nimmt der Embryo im Mutterleib Berührungen wahr. Und nach der Geburt erst recht. Jedes Streicheln, jede Berührung stärkt die Bindung.
Während eines Praktikums arbeitete ich mit einem Schlosser zusammen, der seit Jahren in der Qualitätskontrolle die Oberfläche der Werkstücke überprüfte. Bis auf einen Mikrometer, also auf 0,001 mm genau konnte er die Oberflächenrauheit mit den eigenen Fingerspitzen bestimmen. Eine leichte, fast zärtliche Berührung – und er wusste, ob er mit einem speziell kalibrierten Messgerät nachmessen musste oder nicht. Mich hat diese Feinfühligkeit so fasziniert, dass ich mitmachte, jedes Werkstück in die Hand nahm, betastete, mit den Fingern erkundete. Schlosserin bin ich nicht geworden, aber über ein gutes taktiles Wahrnehmungsvermögen freue ich mich noch heute.
„Wohl denen, deren Wahrnehmungsvermögen, deren geistlicher Tastsinn wächst“, schreiben Hanna und Walter Hümmer in Anlehnung an einen Bibelvers (Philipperbrief 1,9). Die Musikerin und der Pfarrer notieren diesen Satz im Jahres-Lesebuch „Leise und ganz nah“. Hier geben sie ihren Lesern und Leserinnen täglich einen kurzen Gedanken oder auch eine Frage mit: zum Lauf des Jahres, zu einem Fest, oft zu einem Bibelvers. Die Bibel bietet viele Möglichkeiten, den eigenen geistlichen Tastsinn zu schärfen: da sind geschichtliche Fakten und Poesie, Glaubenszeugnis und Streit. Tod und Leben, Kampf und Hoffnung. Mensch und – da ist Gott.
Ich selbst finde es hilfreich und vernünftig, den geistlichen Tastsinn zu trainieren: die Sensibilität für gangbare Lebenswege, wahrhaftige Menschen und für die Erscheinungsformen der Liebe Gottes. Auch deshalb lese ich in der Bibel. Dennoch: der beste Tastsinn der Welt ersetzt nicht das, was ich ertasten möchte. Gott selbst bleibt unverfügbar und der Glaube bleibt Gnade und Geschenk. Das entlastet mich. Ich kann mit Freude, Neugier und Ausdauer meinen geistlichen Tastsinn trainieren – Voraussetzung, um Gott zu vertrauen, ist die Optimierung meines Sinnes nicht. Jesus Christus spricht: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. (Johannes 14,6) Das ist für mich als Christin Gnade und Hoffnung. Licht gerade in dunklen Zeiten.
In dem Bewusstsein um die Grenzen meines Tastens, Denkens und Handelns mache ich mich weiter daran, meinen geistlichen Tastsinn zu sensibilisieren. Ich persönlich liebe die Bibel als Buch in meinen Händen, anfassbar, greifbar. Unterwegs nutze und schätze ich auch mal einen digitalen Zugang fürs Bibellesen, z.B. die-bibel.de/app. Vielleicht haben Sie Ihre Bibelausgabe schon gefunden. Falls nicht, dann prüfen Sie doch einmal die vielen unterschiedlichen Ausgaben und behalten Sie, was für Sie gut ist. Möglicherweise werden Sie beim Lesen so überrascht wie ich immer wieder.
Ich grüße Sie herzlich,
Carolin Esgen, Prädikantin im Evang.-Luth. Dekanatsbezirk Lohr a.Main